Schmerz und Sucht: konzeptuelle Revision und psychodynamische Perspektiven

A. Springer

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Abstract aus Suchtmedizin:

Schmerz und Leiden, Schmerzwahrnehmung und Schmerzausdruck sowie der Respons auf die schmerzbezogenen Inhalte sind zentrale Topoi unserer kulturellen Landschaft. Im wissenschaftlichen und gesundheitspolitischen Diskurs kommt ihnen ebenfalls hoher Stellenwert zu. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Themenkreis und wissenschaftliche Erkenntnisse, die die letzten 50 Jahre erbrachten, haben zu entscheidenden Veränderungen in der Interpretation der Schmerzphänomene geführt. Schmerz wird heute nicht einzig als isoliertes Geschehen verstanden, das aus einer Krankheit oder einer Verletzung resultiert, sondern als multidimensional bedingtes und anhaltendes Problem, das seinen eigenen Regeln folgt und oftmals viel beeinträchtigender und unerträglicher erscheint, als eine evtl. auslösende Krankheit. In der Forschung wird daher, neben der Suche nach immer besseren und sichereren Arzneimitteln und Arzneimittelformulierungen, psychologischen, interaktiven, kommunikativen und soziokulturellen Aspekten des Umgangs mit Schmerz und Leid zunehmend besonderes Augenmerk geschenkt. Dieses neue Verständnis hat auch entscheidende Veränderungen des therapeutischen Zugangs eingeleitet. Neben der traditionellen Arzneimittelbehandlung und chirurgischen Eingriffen kommen vermehrt andere Methoden zum Einsatz: psychologische Therapien, Förderung der Selbstkompetenz und Selbsthilfe, rehabilitative Maßnahmen und Physiotherapie, aber auch ein buntes Angebot alternativer Methoden bis hin zur gezielten Nutzung des Placeboeffekts.

Dabei geht es nicht um ein Entweder-Oder, sondern um die Entwicklung einer gut konzertierten Behandlungsstrategie, die verschiedene Methoden nutzt, um synergistische Effekte zu erzielen. Die Notwendigkeit des Einsatzes von schmerzstillenden Arzneimitteln ist unumstritten; die pharmakologische Behandlung bleibt eine wesentliche Komponente in dem erweiterten Angebot. Auch die tragische Entwicklung, die in den USA eingetreten ist, hat nicht dazu geführt, dass die grundsätzliche Bedeutung der Opioide für die Schmerzbekämpfung in Fachkreisen infrage gestellt wird. Ganz im Gegenteil wird gefordert, ihre Zugänglichkeit zu erleichtern und ihren Gebrauch in der Schmerztherapie zu enttabuieren, da die Verweigerung dieser Behandlung „unnötiges Leid von Millionen Menschen“ verursacht.

Die Beziehung zwischen Schmerztherapie und Sucht bleibt allerdings ein letztes Tabu. Aus historischer Perspektive ist sie ein wohlbekanntes Phänomen, das in Thomas de Quinceys Selbstbekenntnissen seine erste exemplarische literarische Darstellung mit überdauernder Bedeutung gefunden hat. Von den Proponenten der Schmerztherapie wird allerdings stets behauptet – und mit Beispielen aus der klinischen Erfahrung und der entsprechenden Begleitforschung belegt – dass eine gut und regelrecht durchgeführte Schmerzbehandlung ein geringes Risiko zu einer Suchtentwicklung in sich berge. Die Menschen, die gegen dieses Prinzip verstoßen und innerhalb einer Schmerztherapie Abhängigkeit und Craving entwickeln, gelten als a priori kranke Menschen, die von der Droge einen Effekt erwarten, der für die große Mehrheit der Klient*innen der Schmerzbehandlung irrelevant bzw. unerwünscht ist. Der Umfang dieser Teilpopulation bleibt im Dunkeln. Bis zuletzt wurde kaum beachtet, dass die unerwünschte Verbindung zwischen Schmerz und Sucht, wie alle schmerzbezogenen Phänomene, ein komplexes Geschehen darstellt, das nicht reduktionistisch auf individuelle Eigenheiten zurückgeführt werden kann, sondern aus verschiedenen Bedingungen entsteht, die psychodynamisch verwurzelt und nicht zuletzt im soziokulturellen Rahmen verortbar sind. Die aktuelle ökonomische Interpretation der Hintergründe der amerikanischen Opioidkrise enthält eine Korrektur dieser simplistischen und letztlich stigmatisierenden Auffassung.

Angepasste Rahmenbedingungen und ein angepasstes Regelwerk für die von Schmerz und Sucht gleichermaßen belastete Population zu entwickeln, das Stigmatisierung und Ausgrenzung vermeidet, imponiert als große Aufgabe für die Zukunft des gemeinsamen Schicksals von Schmerztherapie und Suchtbehandlung. Ein Rückgriff auf das psychoanalytische Modell der Suchtkrankheit könnte das Verständnis für psychogenetisch-prozesshafte Verläufe, in denen Schmerz und Sucht ineinander verschmelzen, verbessern.

English Version:
Pain and suffering, pain perception and pain expression, as well as responses to pain-related content are central topoi of our cultural landscape. They also play an important role in scientific and health policy discourse. The scientific examination of the subject area and the scientific findings gained over the last 50 years have led to decisive changes in the interpretation of pain phenomena. Today, pain is not only understood as an isolated event resulting from a disease or injury, but as a multi-dimensional, conditioned and persistent problem that follows its own rules and often seems much more debilitating and unbearable than a disease that may trigger it. In addition to the search for better and safer drugs and drug formulations, psychological, interactive, communicative and socio-cultural aspects of dealing with pain and suffering are therefore increasingly given special attention in research. This new understanding has also led to decisive changes in therapeutic access. In addition to traditional drug treatment and surgical interventions, other methods are increasingly being used: psychological therapies, promotion of self-competence and self-help, rehabilitative measures and physiotherapy, but also a wide range of alternative methods including the targeted use of the placebo effect.

It is not a question of either/or, but of developing a well-concerted treatment strategy that uses various methods to achieve synergistic effects. The necessity of using pain-relieving drugs is undisputed; pharmacological treatment remains an essential component in the expanded offer. Even the tragic development that has taken place in the USA has not led to the fundamental importance of opioids for the treatment of pain being questioned by experts. On the contrary, it is called for to facilitate their accessibility and to destabilize their use in pain therapy, since refusal of this treatment causes “unnecessary suffering to millions of people”.

However, the relationship between pain therapy and addiction remains a final taboo. From a historical perspective, it is a well-known phenomenon that has found its first exemplary literary representation with lasting meaning in Thomas de Quincey’s self-confessions. However, the proponents of pain therapy always claim – and prove with examples from clinical experience and the corresponding accompanying research – that a well and properly performed pain treatment involves a low risk of addiction development. People who violate this principle and develop addiction and craving within a pain therapy are considered a priori ill people who expect an effect from the drug that is irrelevant or undesirable for the vast majority of clients of pain treatment. The size of this sub-population remains in the dark. To this day, hardly any attention is paid to the fact that the undesired connection between pain and addiction, like all pain-related phenomena, is a complex event that cannot be reduced to individual peculiarities but arises from various conditions that are psychodynamically rooted and, not least, can be located within the socio-cultural framework. The current economic interpretation of the background of the American opioid crisis contains a correction of this simplistic and ultimately stigmatizing view.

To develop adapted framework conditions and an adapted set of rules for the population equally burdened by pain and addiction, which avoids stigmatisation and exclusion, impresses as a great task for the future of the common fate of pain therapy and addiction treatment. A recourse to the psychoanalytical model of addiction could improve the understanding of psychogenetic processes in which pain and addiction merge.

Zitierweise:

Springer A (2019). Schmerz und Sucht: konzeptuelle Revision und psychodynamische Perspektiven. Suchtmed 21(5): 339-350

Bruggmann / Krausz / Backmund / Walter / Soyka / Haltmayer

Addiction Medicine

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