Wissenschaft trifft Politik – die Basis der europäischen Grenzwerte für Stickstoffdioxid und Feinstaub

P. Bruckmann, U. Krämer, H.-E. Wichmann

Abstract aus Umweltmedizin – Hygiene – Arbeitsmedizin:

Derzeit findet in Deutschland eine heftige Diskussion über Richtwerte und Grenzwerte von Luftschadstoffen statt. In diesem Beitrag soll dargelegt werden, wie diese Werte entstanden sind und was sie bedeuten. Dabei liegt der Schwerpunkt auf dem Jahresmittelwert für NO2, der an verkehrsnahen Messstationen häufig überschritten wird.
Der Grenzwert der EU von 40 μg/m3 NO2 ist identisch mit dem Richtwert der WHO aus dem Jahr 2006. Dieser wiederum basiert auf einer Empfehlung aus dem Jahr 1997. Die Ableitung erfolgte damals auf der Grundlage von Untersuchungen zum Zusammenhang zwischen Symptomen kindlicher Atemwegserkrankungen und der NO2-Belastung in Wohnungen. Die in der Zwischenzeit hinzugekommenen epidemiologischen Daten zu Wirkungen von NO2 in der Außenluft haben letztlich zu keiner Änderung des Richtwertes geführt, da die neuen Daten mit dem bestehenden Richtwert in Einklang stehen. In allen Beratungen der WHO wurde aber herausgestellt, dass nicht klar ist, inwieweit – in Hinblick auf gesundheitliche Wirkungen – die außen gemessene NO2-Konzentration als Indikator nicht nur das Gas NO2, sondern auch andere verkehrsabhängige Schadstoffe repräsentiert.
Bei der Festlegung des (vergleichsweise strengen) EU-Grenzwertes für NO2 im Jahr 1999 spielte es eine maßgebliche Rolle, dass man erwartete, dass dieser Grenzwert innerhalb von 10 Jahren einzuhalten sein würde. Dem lagen damals Abschätzungen für die Emission zugrunde, die sich mittlerweile als unrealistisch erwiesen haben, da sie für Diesel-PKW auf Daten des europäischen Testzyklus beruhten, die um den Faktor 2–4 niedriger waren als die Emissionen im Realbetrieb.
Ganz anders ist die Situation beim Feinstaub, wo der EU-Grenzwert für PM2,5 und mit einer Ausnahme auch für PM10 überall in Deutschland eingehalten wird. Hier sind die EU-Grenzwerte allerdings 2–3-mal so hoch wie die WHO-Richtwerte.
Betrachtet man die aktuelle Datenlage, so ist festzuhalten, dass die Expositions-Wirkungs-Beziehungen für Gesundheitseffekte durch die Langzeitbelastungen von NO2 und Feinstaub im Bereich der realen Immissionen linear sind. Das bedeutet, dass auch unterhalb der Richt- und Grenzwerte in gewissem Umfang negative gesundheitliche Auswirkungen zu erwarten sind. Für den Gesundheitsschutz der Bevölkerung folgt daraus, dass die Fixierung des Augenmerks auf die Einhaltung von Grenzwerten nicht ausreicht. Stattdessen ist es wichtiger, sowohl die bestehende Belastung als auch die Auswirkungen von Reduktionsmaßnahmen für die Bevölkerung als Ganzes zu betrachten.
In Hinblick auf die wahrscheinliche Rolle von NO2 als Indikator für verkehrsabhängige Luftschadstoffe insgesamt wäre es zudem wichtig, die Konzentrationen anderer Komponenten, wie z.B. von ultrafeinen Partikeln und Ruß, zu messen. Nur so wird es in Zukunft möglich sein, deren Wirkungen von denen des Gases NO2 abzugrenzen und damit zu einer zielgenaueren Umweltschutzpolitik für Luftschadstoffe zu kommen.

Schlagworte: Stickstoffdioxid, Feinstaub, WHO-Richtwert, EU-Grenzwert

English Version:

In Germany a controversial discussion about air quality guidelines and standards for ambient air quality is currently going on. This article describes how these values were developed and what they mean. The focus will be on the EU standard for the annual average of nitrogen dioxide, which in Germany is frequently exceeded at traffic measurement stations.
The EU standard of 40 μg/m3 NO2 is identical with the guideline value of WHO from 2006, which is based on a recommendation from 1997. For the derivation of this value, the association between symptoms of airway disease in children and the NO2 exposure in dwellings was analyzed. Meanwhile numerous epidemiological studies on effects of NO2 in ambient air have been performed, but until now these did not lead to a modification of the guideline value, since the new data are in accordance with the current value. When interpreting health effects of NO2 all WHO expert panels emphasized that it remains unclear whether the ambient concentration of NO2 serves as an indicator also for other traffic-dependent pollutants.
When the (relatively stringent) EU standard for NO2 has been established in 1999, the expectation that this standard could be met within 10 years played an important role for the regulators. This expectation was justified by the assessment of emission data, which meanwhile have been shown to be unrealistic, because these calculations were based on data of the European test cycle for diesel cars which underestimated the real world emissions by a factor of 2–4.
The situation for particulate matter (PM) is completely different: The EU-standard of PM2,5 is met everywhere in Germany (and the standard for PM10 everywhere except at one measurement station). However, it has to be kept in mind that the EU Standards for PM are 2–3 times as high as the WHO guideline values.
According to current knowledge the exposure-effect relationships for long-term exposure of NO2 and PM and health outcomes are linear. This means that also below standard and guideline values negative health effects have to be expected. Therefore the sole emphasis on the observance of standards is not sufficient for the protection of the health of the population. Instead it is more important to consider the population as whole with respect to the existing exposure as well as to the consequences of mitigation measures.
With respect to the probable role of ambient NO2 as an indicator of traffic-dependent air pollutants, it would be important to measure also the ambient concentrations of other components like ultrafine particles and carbon (soot). This is the only way to separate the effects of these pollutants from the effects of NO2 as gas, and thus to reach a more carefully targeted approach of environmental policy in the future.

Keywords: nitrogen dioxide, particulate matter, WHO Guideline value, EU Standard

 

Zitierweise:
Bruckmann P, Krämer U, Wichmann HE (2019). Wissenschaft trifft Politik – die Basis der europäischen Grenzwerte für Stickstoffdioxid und Feinstaub. Umweltmed – Hygiene – Arbeitsmed 24(2): 83–100

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