Glyphosat in den Medien – Wissenschaft, Meinung oder Polemik?

T. Adelberger, J. Schulze

Hintergrund: Die öffentliche Meinung ist im Informationszeitalter unmittelbar und mittelbar von großer Bedeutung. Maßgeblich tragen dabei die (Massen-)Medien zur Bildung der öffentlichen Meinung bei. Der Darstellung wissenschaftlicher Zusammenhänge in den Medien kommt daher für Richtungsentscheidungen besondere Bedeutung zu, auch für Zulassung oder Verbot von Chemikalien wie Herbiziden.

Fragestellung: Am Beispiel von Glyphosat wurde untersucht, ob vor der Zulassungsverlängerung im Juni 2016 die Darstellung der wissenschaftlichen Bewertung der Glyphosat-Toxizität in deutschen Medien sachlich richtig und ausgewogen stattfand.

Methode: Im Zeitraum von Januar 2015 bis Juni 2016 wurden aus 10 überregionalen Zeitschriften und Online-Zeitschriften 197 relevante Artikel zur Glyphosat-Debatte identifiziert und mit Hilfe eines 48-Punkte-Scoring-Systems auf Objektivität und Vollständigkeit der Darstellung untersucht.
Ergebnisse: Im Median wurden 7 der 48 Merkmale pro Artikel genannt. Häufigstes erwähntes Merkmal war mit 90 % die potenziell krebserregende Wirkung von Glyphosat. Eine mögliche fehlende Relevanz des kanzerogenen Risikos von Glyphosat fand in 71 % der Artikel Erwähnung. Insgesamt 58 Artikel, entsprechend 29,4 %, zeigten dabei eine eindeutig negative Informationstendenz hinsichtlich der Gefährlichkeit von Glyphosat, erkennbar an der Auswahl der berichteten Merkmale.
Schlussfolgerung/Diskussion: Die Glyphosat-Toxizität wurde in den deutschen Medien zwar umfassend, aber tendenziös dargestellt. Die formale Textanalyse zeigte, dass in einem Großteil der untersuchten Artikel über die Glyphosat-Toxizität die Faktenlage unvollständig, sowie die bestehende kanzerogene Gefahr als relevantes Risiko dargestellt wurde.

Essentials

Chemisch betrachtet gehört Glyphosat zur Gruppe der Phosphonate und wirkt als umfassendes Breitbandherbizid. Es befindet sich seit 1974 auf dem Markt und ist der weltweit am meisten verwendete Unkraut-Vernichter. Allein in Deutschland werden jährlich etwa 6 000 Tonnen verkauft.
Aufgrund der vorliegenden Studienlage aus epidemiologischen und experimentellen Studien hat Glyphosat ein mögliches kanzerogenes Gefährdungspotenzial, jedoch stellt dieses bei üblicher Verwendung und den derzeit gemessenen Konzentrationen in Lebensmitteln kein Gesundheitsrisiko dar; das sehr niedrige Tumorrisiko kann aufgrund der derzeitig vorliegenden Daten nicht quantifiziert werden.

Einführung

Medizin als Wissenschaft ist auch stark von der öffentlichen Wahrnehmung geprägt. Medizinische Forschung ist kein Selbstzweck, sondern muss sich der Erwartungshaltung der Gesellschaft stellen. Auch die Bewertung der Ergebnisse erfolgt im Kontext gesellschaftlicher Erwartungen; dadurch ergeben sich zwangsläufig Wechselwirkungen zwischen medizinischer Forschung, staatlichen Vorgaben, Kontrollen und dem Gesetzgebungsprozess (Ulsenheimer 2015).

Das Informationszeitalter hält völlig neue Herausforderungen für Medizin und Biowissenschaften bereit; neue Entwicklungen stehen regelmäßig im Fokus der Medien, in jüngster Vergangenheit z. B. der „Organspende-Skandal“ oder die Präimplantationsdiagnostik (Mertin 2016, Weiske et al. 2017). Diese Skandale prägen die öffentliche Wahrnehmung, die ihrerseits den Gesetzgebungsprozess beeinflusst sowie weitere Regelungen beispielsweise für eine Organvergabe oder – in der Toxikologie – die Schwellenwerte für Schadstoffe. Die öffentliche Meinung selbst bildet sich aus den ihr zugänglich gemachten wissenschaftlichen Informationen und deren laienverständlicher Darstellung, so dass dem Umgang der Medien mit wissenschaftlichen Sachverhalten eine gewichtige Bedeutung zukommt. Problematisch kann die öffentliche Meinungsbildung über die Medien werden, wenn ein Thema bereits vorher im öffentlichen Fokus steht, wenn kein wissenschaftlicher Konsens herrscht und/oder darüber hinaus unterschiedliche politische, finanzielle oder ethische Ansichten existieren; auch deshalb ist die sachliche Darstellung emotional aufgeladener Themen in den Medien schwierig. Exemplarisch für ein solches, vorher diskutiertes und emotional besetztes Thema ist die Debatte um die Schädigung durch das Totalherbizid Glyphosat (Wegener 2014). Die Darstellung wissenschaftlicher Zusammenhänge in den Medien birgt zudem oft Verständnisprobleme, insbesondere bei komplexen Zusammenhängen und fachspezifischen Terminologien. In Verbindung mit Glyphosat ist dies insbesondere an dem Unterschied zwischen einem „Risiko (Hazard)“, (bezifferbare Gefährdung in „betroffene Personen pro 100 000 Exponierte“, kann mit anderen Stoffen verglichen werden), und einer „Gefahr (Potenzial)“ (die grundsätzliche Möglichkeit einer Gefährdung besteht, die Anzahl der Betroffenen ist jedoch nicht bezifferbar) deutlich.

Glyphosat

Chemisch ist Glyphosat ein Phosphonat (Summenformel: C3H8NO5P) und wirkt als umfassendes Breitbandherbizid; es hemmt die 5-Enolpyruvylshikimat-3-phosphat-Synthase (EPSPS), die essenzieller Bestandteil des nur für Pflanzen essenziellen Biosynthesewegs für die aromatischen Aminosäuren Phenylalanin, Tyrosin und Tryptophan ist. Das resultierende Fehlen aromatischer Aminosäuren verhindert die Proteinbiosynthese in behandelten Pflanzen und lässt sie absterben. Für Tiere (einschließlich Menschen) sind alle aromatischen Aminosäuren essenziell und können nicht selbst synthetisiert werden; die Hemmung dieses Synthesewegs ist daher direkt nicht relevant.

Glyphosat befindet sich seit 1974 auf dem Markt und ist der weltweit am meisten verwendete Unkraut-Vernichter. Glyphosathaltige Herbizide werden in etwa 130 verschiedene Länder vertrieben und von über 90 Unternehmen produziert, 2014 allein in Deutschland 5 530 Tonnen in der Agrarwirtschaft und 95 Tonnen in privaten Gärten (Franzenburg 2016).

Die Toxizität von Glyphosat ist bei Tieren gut untersucht, das spezifische Gesundheitsrisiko für den Menschen wurde lange als unbedenklich eingestuft. Die folgende Aufzählung dient einer Orientierung über die postulierten und derzeit kontrovers diskutierten toxischen Eigenschaften; die Bewertung erfolgte durch etliche internationale Agenturen, die im Folgenden als Quellen benannt werden:

  • Im März 2015 wurde Glyphosat durch die Internationale Agentur für Krebsforschung (IARC), einer Unterabteilung der WHO, als „wahrscheinlich krebserzeugend für den Menschen“ (IARC Kategorie 2A) eingestuft; eine Quantifizierung dieses Potenzials wurde nicht vorgenommen (IARC 2015).
  • Das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) widersprach dieser Einstufung und teilte mit, dass Glyphosat nach Bewertung der damals aktuellen Studienlage als vorerst Unbedenklich zu behandeln sei (BfR 2015).
  • Die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) stellte im November 2015 fest, dass von Glyphosat in den derzeit gefundenen Konzentrationen kein relevantes krebserregendes Risiko für den Menschen ausgeht (EFSA 2015).
  • 2016 stufte ein gemeinsames Gremium der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) und der WHO sowie der Sachverständigenausschuss für Pestizidrückstände (JMPR) die derzeit über die Nahrung aufgenommenen Glyphosatmengen als unbedenklich hinsichtlich ihrer Kanzerogenität für den Menschen ein (FAO/WHO, Solomon 2016).

Wissenschaftlich besitzt Glyphosat damit ein kanzerogenes Gefährdungspotenzial, welches jedoch bei den derzeit gemessenen Konzentrationen in Lebensmitteln nach übereinstimmender Ansicht des JMPR sowie der FAO/WHO und dem BFR kein Gesundheitsrisiko darstellt. Wie für andere potenziell schädliche Substanzen auch, ist das derzeitige Risiko durch Glyphosat damit kein Anlass für regulatorische Maßnahmen wie Verbote oder Gebrauchseinschränkungen. Insbesondere in Deutschland erscheint die Darstellung dieses Sachverhaltes in der Presse jedoch dieser wissenschaft­lichen Meinung nur bedingt zu entsprechen. Daher soll in der folgenden Arbeit untersucht werden, ob die Darstellung der wissenschaftlichen Bewertung des Glyphosatrisikos in den Medien zutreffend und umfassend ist.

Methoden

Alle Artikel in den überregionalen Zeitungen, Zeitschriften und Fernsehmedien Frankfurter Allgemeine Zeitung, Handelsblatt, Spiegel, Spiegel Online, Stern Online, Süddeutsche Zeitung, Tagesschau, TAZ und Zeit Online zwischen Januar 2015 (2 Monate vor der Publikation der geänderten IARC-Klassifizierung) bis einschließlich Juni 2016 (nach der vorläufigen Verlängerung der Glyphosat-Zulassung in der EU) wurden identifiziert. Mit Hilfe eines Scoring-Systems zu relevanten Informationen über Glyphosat-Eigenschaften (eine Auflistung aller Merkmale sowie eine Beschreibung findet sich in der „Begriffserklärung“) wurden diese Artikel daraufhin analysiert, ob die entsprechenden Merkmale enthalten waren, sowie diese vollständig und balanciert dargestellt wurden. Insgesamt 197 Artikel wurden in dieser Weise analysiert.

Artikelauswahl

Einbezogen wurden nur Artikel, die sich überwiegend mit der wissenschaftlichen Bewertung der Schädlichkeit von Glyphosat befassten. Auch erfasst wurden Artikel, die sich mit der politischen Frage über die Verlängerung der Glyphosat-Zulassung befassten, wobei der Artikel zusätzlich über Glyphosat als solches informieren musste, nicht ausschließlich über politische Entscheidungsprozesse. Bewertet wurden nur die Artikel, die für den Leser eine schnelle und klare Verbindung zum Thema „Glyphosat“ herstellten, i.e. die „Glyphosat“ in der Überschrift oder den Kopfzeilen enthielten. Artikel, die sich inhaltlich eindeutig nicht mit Glyphosat-Schäden auseinandersetzten, wurden ausgeschlossen. Dies betraf vorwiegend Artikel, die unter der gesuchten Überschrift eine andere inhaltliche Richtung (z. B. politische Analysen, finanzielle Hintergründe zu den beteiligten Firmen) einschlugen.

Kriterien

Als relevant angesehen wurden alle Informationen, denen von Leserseite aus ein berechtigtes Informationsinteresse zukommt, da sie erheblich bei der Meinungsbildung behilflich sein können. Insgesamt wurden 48 Kriterien überprüft zur Darstellung der Kanzerogenität, Toxizität oder Unbedenklichkeit von Glyphosat. Innerhalb dieser Kriterien wurde weiter jeweils danach gesucht, ob zusätzliche Informationen bereitgestellt wurden, die geeignet sind, die Glaubwürdigkeit der jeweiligen Bewertung von Glyphosat für den Leser zu erhöhen, indem sie diese als Produkt wissenschaftlicher Untersuchung darstellen. Also etwa ob die Erwähnung und Schlussfolgerung durch eine Publikation belegt wurden, ob der Autor der Studie, das Publikationsorgan und ggfs. der Versuchsaufbau genannt wurden. Bei der Erwähnung von Expertenmeinungen und/oder Sachverständigen wurde untersucht, ob eine Expertenquelle und das zugehörige Institut des Experten genannt wurde, sowie ob der Experte namentlich erwähnt wurde. Spezifisch wurde nach der direkten Nennung von IARC, EFSA, BfR und JMPR oder der allgemeinen Nennung anderer Institute gesucht.

Hinsichtlich der Verwendung von Glyphosat wurde getrennt nach der Verwendung in der Agrarwirtschaft, dem öffentlichen und dem privaten Sektor gesucht. Bei den biochemisch-toxikologischen Eigenschaften wurde nach der Spezifität der Hemmung für Pflanzen, der Enzymblockade im Aminosäurestoffwechsel sowie der Gen-Pflanzeninteraktion und der Resistenzbildung gesucht. Für die Bewertung der Toxizität durch öffentliche Institutionen wurde gesucht, ob die bisherigen Diskrepanzen der unterschiedlichen Ergebnisse dargestellt wurden, und oder ob Erklärungsversuche zur Lösung des wissenschaftlichen Dissens beschrieben wurden.

Letztlich wurde als subjektives Bewertungskriterium kumulativ eingeschätzt, ob ein Artikel in der Gesamtdarstellung eine „Negative Informationstendenz“ beinhaltet, sowie eine – ebenfalls subjektive – Bewertung der Tendenziösität des Artikels; hierin flossen auch die Bewertung der Bebilderung und graphischen Aufarbeitung ein.

Zur Bewertung des Informationsgehaltes wurde nur analysiert, ob ein Kriterium erwähnt wurde, nicht jedoch, wie dieses Kriterium dargestellt wurde. Alle Artikel und ihre Bewertung wurden in einer Datenbank erfasst, eine Auswertung erfolgte über eine deskriptive Statistik.

Ergebnisse

Artikelhäufigkeit im Beobachtungszeitraum

Erwartungsgemäß erschienen vor der Änderung der Kanzerogenitätsbewertung durch das IARC in den ersten beiden Monaten des Erfassungszeitraumes keine Artikel zu Glyphosat. Neben den 3 Artikeln im März 2015 erschienen zwischen Mai 2015 und April 2016 zwischen einem und 23 Artikel pro Monat; erst 2 Monate vor der anstehenden Verlängerung der Zulassung durch die EU erschienen 41 Artikel im Mai 2016 und 37 Artikel im Juni 2016. Mit 92 Artikeln erschienen in den letzten drei Monaten (April bis Juni 2016) fast gleich viele Artikel wie in den 15 vorherigen Monaten (105 Artikel).

Anzahl der genannten Merkmale

Alle Artikel wurden auf die Erwähnung von insgesamt 48 Items hin ausgewertet. In den meisten Fällen wurden weniger als 10 Items erwähnt, nur 3 Artikel erwähnten 22, 23 bzw. 41 Items; in 7 Artikeln wurde kein einziges Item gefunden. Der Durchschnitt der genannten Merkmale pro Artikel lag bei 6,66, der Median bei 7.
Nach dem Erscheinungsdatum lässt sich kein Trend feststellen, dass der Informationsgehalt, gemessen an der Anzahl der genannten Items, sich mit der Zeit änderte.

Kanzerogenität

Angegeben sind die Prozentwerte der Artikel, in denen das genannte spezifische Item erwähnt wurde.

Von den spezifischen Inhalten bezogen sich 20 Items auf spezifische Aspekte zur Kanzerogenität und/oder Toxizität, sowie den Instituten, die sich mit der Klassifikation einer kanzerogenen Gefahr bzw. eines Risikos befassen. Am häufigsten, i.e. in 90 % der Artikel, wurde die potenziell krebserregende Wirkung erwähnt (häufig ohne die Spezifizierung als „potenziell“). Am prozentual seltensten wurde die Kanzerogenität im Mai 2015 erwähnt (4 von 6 Artikeln), während im Jahr 2016 alle Artikel diese Wirkung erwähnten. Die mögliche kanzerogene Wirkung von Glyphosat ist das insgesamt am meisten genannte Merkmal; lediglich bei Spiegel bzw. bei Spiegel online ist die kanzerogene Wirkung von Glyphosat nur das am zweithäufigsten genannte Merkmal, während die Verwendung in der Agrarwirtschaft häufiger oder gleich häufig genannt wird. Zudem wird die mögliche Kanzerogenität von Glyphosat in lediglich drei Zeitschriften seltener als in 90 % aller Artikel erwähnt, i.e. dem Spiegel (75 %), der Taz (73 %) und der FAZ (83 %).

Deutlich seltener, nämlich in 71 % aller Artikel, wird die mögliche Unbedenklichkeit von Glyphosat erwähnt. Nur in 3 der 15 betrachteten Monate (Juli, Oktober und Dezember 2015) mit relevanten Artikeln wird dies in allen Artikeln erwähnt, zusammen mit der ebenfalls immer genannten Kanzerogenität. Die geringste Differenz in der Nennung zwischen Kanzerogenität und Unbedenklichkeit weist dabei das Handelsblatt mit lediglich 4 Prozentpunkten auf, während sich bei der Taz eine Differenz von 34 Prozentpunkten, in der Printausgabe des Spiegels sogar 37 Prozentpunkten ergibt. Lediglich eine Zeitung (Handelsblatt) und ein Medium (Zeit online) nennen die mögliche Unbedenklichkeit in über 90 % aller Artikel.

Mögliche tendenziöse Präsentation

Für diese Kategorie wurde verglichen, wie häufig die Merkmale zur Kanzerogenität sowie zur Unbedenklichkeit in einem Artikel erwähnt wurden. Eine „negative Informationstendenz“ wurde angenommen, wenn der Artikel im Gegensatz zur Diskussion in der Wissenschaft ausschließlich oder überwiegend Informationen zur einer Position enthält, d.h. zur Gefährlichkeit. Dabei lag eine negative Informationstendenz insbesondere dann vor, wenn der Artikel lediglich die mögliche Krebsgefahr durch Glyphosat, nicht aber dessen mögliche Unbedenklichkeit erwähnte. Ferner wurde ein Artikel als tendenziös eingestuft, wenn er zwar die vorgenannten Merkmale erfasste, jedoch lediglich für die mögliche Kanzerogenität die Aussage mit einem Institut belegt war. Dabei wurde nicht bewertet, wie viele Informationen der Artikel bereitstellt, sondern lediglich, ob sie hinsichtlich ihrer Informationstiefe für die Kanzerogenität/Toxizität und der Unbedenklichkeit objektiv gleichwertig und in gleicher Tiefe dargestellt werden.

Insgesamt zeigten 58 Artikel (29,4 %) eine eindeutig negative Informationstendenz. Über den Beobachtungszeitraum fanden sich dabei keine systematischen Abweichungen, die bei einigen Monaten hohen Prozentzahlen resultieren aus der niedrigen Gesamtzahl von Artikeln.

Erläuterung des wissenschaftlichen Dissenses

Unter diesem Merkmal wurde untersucht, ob der Artikel für den Leser erkennbar herausstellt, dass es einen Bewertungsunterschied (mit jeweiligem Gültigkeitsanspruch) zur potenziellen Kanzerogenität und der Unbedenklichkeit von Glyphosat aufgrund der niedrigen Konzentrationen gibt, dass also ein augenscheinlicher wissenschaftlicher Bewertungsdissens besteht, der jedoch durch den Unterschied zwischen Potential und Risiko aufgelöst werden kann. Darauf aufbauend wurde analysiert, ob der jeweilige Artikel dem Leser die entsprechende Erklärung bereitstellt, wie es zu diesem Dissens kommt. Eine ausreichende Darstellung wurde insbesondere dann angenommen, wenn der Artikel den Unterschied zwischen Gefahr/Potenzial- und Risikoanalyse darstellt, oder anders näher erklärte, auf welche Weise sich die Ergebnisse aus den zuvor genannten Experimenten oder Studien ergeben.

Lediglich in 2 Monaten wurde das Merkmal „Dissens“ in >50 % der Artikel erwähnt, namentlich im Dezember 2015 bei 50 % (von 6 Artikeln) sowie dem Mai 2016 mit 59 % (von 41 Artikeln). Zusätzlich wurde ausgewertet, ob in einem Artikel versucht wurde, diese Diskrepanz zu erläutern; dies war in keinem der betrachteten Monate bei 50 % der Artikel der Fall (Maximum August 2015, 40 %, Minimum Februar 2016, 7 %). Auffällig ist zudem, dass ab November 2015 der Dissens seltener erklärt wird. Der größte Unterschied findet sich im April 2016, in welchem 43 % der Artikel einen Dissens aufzeigen, jedoch lediglich 14 % diesen zu erklären versuchen.

Subjektive Bewertung

Zusätzlich wurden alle Artikel von zwei medizinisch Fachkundigen, davon einem Toxikologen, einer subjektiven Bewertung bzgl. der sachgerechten Darstellung unterzogen, da eine objektive Analyse den Kontext von Überschriften, Layout und/oder Merkboxen nicht berücksichtigen kann; auch die Bebilderung eines Artikels kann nicht quantifiziert werden. Bewertet wurde als Gesamteindruck, ob der Artikel ein eher positives, neutrales oder negatives Bild von Glyphosat und dessen Gefahren entstehen lässt.

Insgesamt nimmt der Anteil der „negativen“ Artikel im Beobachtungszeitraum ab, insbesondere in den letzten 3 Monaten Mai, Juni, Juli 2016. Bemerkenswert ist aber insbesondere, dass der Artikel mit den meisten (41 von 48) erwähnten Items bei der subjektiven Bewertung als sehr negativ klassifiziert wurde, was die Bedeutung des Formulierungskontextes in der Laienpresse unterstreicht, insbesondere für einen Wissenschaftsartikel.

Betrachtet man im Vergleich dazu die als positiv klassifizierten Artikel, so fehlt hier eine Zunahme positiver Artikel im Jahr 2016; in beinahe jedem Monat übertrifft die Anzahl der „negativen“ und „sehr negativen“ Artikel jeweils die „positiv“ und „sehr positiv“ bewerteten Artikel.

Diskussion

Der Unterschied zwischen einem Gefährdungspotenzial und einem Risiko spielt für die Bewertung des Totalherbizids Glyphosat eine wichtige Rolle, da die WHO (IARC) Glyphosat als „potenziell karzinogen“ einstuft, andere Agenturen das Risiko aber für vernachlässigbar halten. Die Darstellung in deutschen Medien betont insbesondere die Karzinogenität von Glyphosat, toxikologisch besteht dagegen weitestgehend Konsens darüber, dass Glyphosat zwar ein krebserregendes Potenzial aufweist, jedoch bei gebrauchsgemäßer Verwendung kein kanzerogenes Risiko darstellt. Diese Diskrepanz birgt ein hohes Risiko für Missverständnisse, eine eindeutige Darstellung in den Medien erfolgt jedoch nicht. Dabei ist gerade das Verständnis dieser Zusammenhänge für eine Bewertung der Gefährdung von sehr großer Bedeutung.

Bisher existieren kaum Studien zur Qualität der Darstellung wissenschaftlicher Themen in der Laienpresse (Montane et al. 2005). Wegen der schon langen Diskussion über Glyphosat und der komplexen Faktenlage, aber auch der großen Bedeutung erscheint die Glyphosat-Toxizität ein geeignetes Beispiel, diese Darstellung näher zu untersuchen. Alle relevanten Artikel zu Glyphosat-Gefahren vor der Entscheidung der EU zur Verlängerung der Zulassung im Juli 2016 wurden analysiert, die zwischen Januar 2015 und Juni 2016 in überregionalen und auflagestarken (insg. 9 Quellen) deutschen Medien (bzw. deren Onlinepräsenzen) publiziert worden sind. In dieser Zeit nahm erwartungsgemäß die Anzahl der Artikel stark zu; fast 50 % erschienen in den letzten 2 Monaten. Diese Verteilung trägt dem Öffentlichkeitsinteresse Rechnung, eine vermehrte Berichterstattung zu aktuellen Themen ist zu begrüßen. Problematisch kann es werden, wenn die wissenschaftliche Bewertung (oder eine andere Position Dritter) nicht vollständig dargestellt wird.

Für alle Artikel wurde als Kriterium analysiert, ob vorab festgelegte Fakten vollständig genannt wurden. Dieses Kriterium wurde für alle Artikel beibehalten, auch wenn durch die hohe Artikelanzahl in den letzten Monaten die generelle Information zunimmt. Anzunehmen sollte darüber hinaus jedoch auch sein, dass jeder einzelne Artikel eine höhere Informationsdichte haben sollte, was nicht festzustellen war.

Das reine Erwähnen von Fakten bedingt nicht automatisch eine differenzierte Berichterstattung. Für die Differenzierung wurde ausgewertet, ob neben der möglichen Kanzerogenität auch die wahrscheinliche Unbedenklichkeit der derzeit gefundenen Mengen erwähnt wurde. Während die Glyphosat-Kanzerogenität – meist undifferenziert – in 90 % aller Artikel erwähnt wurde, wurde die „mögliche Unbedenklichkeit“ in 71 % erwähnt, d. h. jeder fünfte Artikel, der die Kanzerogenität angab, erwähnte das derzeit fehlende Risiko überhaupt nicht. Diese ungleiche Darstellung bleibt auch bei einer Aufschlüsselung nach dem zeitlichem Verlauf oder nach individuellen Medien erhalten. Ähnliche ungleiche Erwähnung gilt auch für verwandten Merkmale wie die Angabe der jeweiligen Quelle, der zitierten Institute oder individuellen Forscher. Die hier untersuchten 197 Artikel zeigten auch am Ende des Untersuchungszeitraumes keine Tendenz zu einer vollständigeren Nennung der Fakten. Diese Faktendarstellung führt zu einer ungleichen Information, mit einer unausgeglichenen Betonung der Glyphosat-Gefahren in etwa 30 % der Artikel. Typischerweise wurde dabei die Kanzerogenität (entsprechend der Bewertung durch die IARC) als real existierende Gefahr dargestellt, während das derzeit wohl extrem niedrige, regulatorisch nicht relevante Risiko (Risikobewertung durch EFSA, BFR etc.) nicht oder nicht zutreffend dargestellt wurde, so dass der Leser in den meisten Artikeln von einer Gefahr ausgehen muss.

Diese Auswertung beruht allein auf dem Kriterium „wurde erwähnt“ und erscheint damit objektiv; der nicht objektiv zu erfassende Kontext, in dem diese Fakten erwähnt wurden, ist dabei nicht berücksichtigt.

In der Medizin hat nur Montane et al. (2005) 29 spanische Zeitschriftenartikel über Cannabis analysiert; die Autoren fanden ebenfalls eine (zu?) starke Vereinfachung der Fakten; eine Verzerrung der Fakten (Sensationalismus, falsche medizinische Darstellung, falsche Empfehlungen) fanden sich auch hier in der Mehrzahl der Artikel.

Als zusätzliches Kriterium für die Qualität der Darstellung wurde das „Erklären des wissenschaftlichen Dissenses“ aufgenommen, d. h. die laienverständliche Darstellung des Unterschiedes zwischen Gefahr und Risiko in der Bewertung. Dabei ist davon auszugehen, dass der toxikologische Unterschied von Gefahr und Risiko dem Laien nicht ohne Weiteres ersichtlich ist und die beiden Begriffe als entweder gleichbedeutend oder unvereinbar wahrgenommen werden. Eine gute Berichterstattung muss dem Leser jedoch scheinbar widersprüchliche Ergebnisse wissenschaftlicher Studien erklären, eine (empfundene) Diskrepanz klären und den Dissens durch eine richtige Erörterung beseitigen. Die unterschiedlichen Positionen müssen – wie bei Glyphosat – nicht zwangsläufig als gegensätzlich dargestellt werden; bleiben Erklärungen jedoch aus, besteht immer die Gefahr eines einseitigen Verständnisses durch den Leser.

Für die Bewertung der Glyphosatgefahren ist der Unterschied zwischen Gefahr und Risiko wesentlich; die Darstellung dieses Unterschiedes ist ein Qualitätsmerkmal für einen guten Artikel. Lediglich 42 der 197 Artikel erwähnten diesen Unterschied, davon kein Artikel in den ersten sechs Monaten der Untersuchung. Alle Artikel wurden auch subjektiv bewertet, ob die Berichterstattung ausgewogen war. Diese Bewertung verstärkte den Eindruck der Kriterienaufzählung, wobei hier der Anteil der als negativ empfunden Artikel mit zunehmender Zeit abnahm, entsprechend einer „Korrekturtendenz“. Dennoch wurden in jedem Monat mehr „negativ“ geprägte Artikel als „positive“ oder „neutrale“ Artikel veröffentlicht. Die Darstellung der toxikologischen Daten zu Glyphosat in den Medien erfolgt daher zwar umfassend, jedoch tendenziös.

Die Untersuchung zeigt auch die generelle Problematik der abwägenden Darstellung wissenschaftlicher Zusammenhänge im Kontext des „Schlagzeilen“-Erfordernisses in den Medien. Derartige Gegensätze sind nicht spezifisch für Glyphosat, sondern finden sich bei vielen, insbesondere bei emotional befrachteten Themen; weitere aktuelle Beispiele sind die medizinische Verwendung von Cannabis, oder Gesundheitsrisiken durch spezifische Umweltschadstoffe. Das in dieser Arbeit verwendete Verfahren erscheint nachvollziehbar und generalisierbar, und damit als geeignet, die Berichterstattung in der Sekundärpresse zu überprüfen, Eine Bewertung, ob die Darstellung subjektiv, einseitig oder tendenziös ist, kann dagegen nicht direkt abgegeben werden, wobei eine unvollständige Darstellung nicht mit einer ausgeglichenen Gesamtdarstellung vereinbar erscheint.

Limitationen der Studie

Die Faktenerwähnung wurde als Basiskriterium verwendet, ohne dass die Fakten untereinander gewichtet wurden. Auch die kontextuelle Bewertung wurde nicht erfasst; die Ergänzung dieser Aspekte kann nur durch eine subjektive Bewertung erfolgen und ist damit nicht quantifizierbar. Auch eine semantische Betrachtung des Kontextes, in dem die Kriterien erwähnt wurden, konnte nicht einbezogen werden.

Nicht geklärt ist auch, welche Fakten ein Leser zur Kenntnis nimmt, bzw. ob ein Laie die Fakten auch bei einer richtigen Darstellung richtig bewerten könnte. Gezielte Laien-Befragungen zum empfundenen Glyphosat-Risiko könnten diese Frage klären. Die hier genutzte, objektivierbare Analyse kann auch nonverbale Inhalte wie Bilder oder umgebende Werbung nicht bewerten; von Bildern ist anzunehmen, dass deren Auswahl eine spezifische Bewertung impliziert.
Die Daten können nicht belegen, dass die mediale Darstellung den Meinungsbildungsprozess der Allgemeinbevölkerung beeinflusst hat, sie lassen allerdings den Schluss zu, dass eine einheitliche tendenziöse Darstellung der Glyphosat-Toxizität in der Laienpresse erfolgt ist, die der toxikologischen Datenlage nur begrenzt entspricht

Gesamtergebnis

Die Glyphosat-Gefahren wurden in den deutschen Medien zwar häufig, aber tendenziös dargestellt. Eine Item-Analyse zeigte, dass in einem Großteil der Artikel die Fakten über das in Deutschland emotional belegte Thema der Glyphosat-Toxizität unvollständig dargestellt wurden und das bestehende kanzerogene Potenzial als Risiko dargestellt wurde. Unklar ist, inwieweit diese Berichterstattung auch die Laienmeinung beeinflusst hat. Eine wichtige Folgeuntersuchung wäre die Erweiterung um eine semantische Analyse des Kontextes in den Medien, sowie Untersuchungen zu den Auswirkungen einer einseitigen Darstellung auf die Meinungsbildung beim Leser.

Der komplette Beitrag mit Literaturangaben und Abbildungen ist in der Zeitschrift Umweltmedizin - Hygiene - Arbeitsmedizin 25 (1) 21-30 erhältlich.

 

Zitierweise:
Adelberger T, Schulze J (2020). Glyphosat in den Medien – Wissenschaft, Meinung oder Polemik? Umweltmed - Hygiene - Arbeitsmed 25 (1) 21-30


 

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